„Ich mute Ihnen viel zu“
Der 80-jährige Holocaust-Überlebende Pavel Hoffmann berichtete vor Schülerinnen und Schülern der Gewerblichen Schule Bad Mergentheim von seinen Kindheitserlebnissen im KZ Theresienstadt.
Im Rahmen des Projekts „Schule ohne Rassismus“ nahm der verantwortliche Lehrer Jürgen Tapparelli bereits zum zweiten Mal Kontakt mit „Zeugen der Zeitzeugen“ auf. Anliegen dieses Projekts ist es, Informationen und Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden in die Zukunft zu tragen. Die Schicksale der 6 Millionen getöteten Juden dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Die Schule konnte mit Pavel Hoffmann einen charismatischen und eloquenten Redner gewinnen, der sehr emotional berichtete.
Schulleiter Peter Wöhrle hob in seiner Begrüßung hervor, dass wir unser heutiges Wissen über den Holocaust vor allem aus Büchern und Dokumentationen hätte. Hautnah sei dies aber etwas ganz anderes.
„Ich mute Ihnen viel zu.“ Mit diesen Worten begann Herr Hoffmann zu berichten. Er blicke auf ein langes und zum großen Teil alltägliches Leben zurück, das von Ausbildung, Arbeit und Familie geprägt war. Aber dazwischen gab es eine Zeit, die ganz und gar nicht alltäglich war.
1939 in Prag in eine Arztfamilie hineingeboren verliert er mit drei Jahren seinen Vater. Hoffmanns Vater, ein geachteter und beliebter Zahnarzt, wurde als Vergeltung für das Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, zusammen mit weiteren 1300 Opfern erschossen. Im gleichen Jahr wurden auch seine Großeltern väterlicherseits nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Hoffmann erinnerte sich auch nach einem dreiviertel Jahrhundert voller Liebe an seine Großmutter mütterlicherseits, die im ungarischen Grenzgebiet lebte und versuchte mit ihrem letzten Geld die Familie zu retten. Sie fuhr nach Prag, um dort die ungarische Botschaft zu bestechen. Der Versuch scheiterte und sie kehrte ohne ihre Tochter und deren Familie nach Ungarn zurück. 1944 wurde sie mit 40 weiteren Familienmitgliedern nach Auschwitz deportiert und in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Im Rahmen der von Adolf Eichmann organisierten Transporte starben insgesamt 400.000 Juden der ungarischen Gemeinde.
Der kleine Pavel wurde 1943 zusammen mit seiner Mutter, einer Kinderärztin, nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte das Lager nur drei Wochen und starb mit gerade 34 Jahren. Mit vier Jahren war Pavel Vollwaise und im Lager auf sich allein gestellt. Die jüdischen Betreuer hätten versucht, den Kindern den Alltag so angenehm wie möglich zu machen, so Hoffmann weiter. Sie wurden unterrichtet und trotz der katastrophalen Ernährungslage hungerten die Erwachsenen, damit die Kinder etwas zu essen bekamen. Ganze zwei Jahre lang überlebte er den Lageralltag.
Geblieben sind ihm nur wenige Erinnerungen. Zum einen erinnerte er sich daran, dass er als Vergeltungsaktion für den Fluchtversuch zwei Gefangener mit den anderen Lagerinsassen stundenlang bei Regen im Hof stehen musste. Er hatte panische Angst sich zu rühren. Daneben blieb die Erinnerung an eine Gruppe unterernährter, kranker, gänzlich traumatisierter und verwahrloster Kinder, die eigentlich nach Palästina weiterreisen sollten. Die Bialystok-Kinder wurden zum Spielball politischer Interessen zwischen dem Dritten Reich und dem damaligen Großmufti von Jerusalem, Amin el Husseini. Schließlich entschied man sich gegen ihre Rettung und schickte sie auf Wunsch des Großmuftis nach Auschwitz in den Tod.
Dass Hoffmann überlebte und nicht in einem der Vernichtungslager den Tod fand, kam einem Wunder gleich. In einem Sonderzug reiste er im Februar 1945 mit 1200 jüdischen KZ-Häftlingen quer durchs Reich über Augsburg nach St. Gallen in der Schweiz. Erst viele Jahre später wurden die Hintergründe dieser Sonderfahrt bekannt: Angesichts der drohenden Niederlage hatte Heinrich Himmler die Gefangenen gegen eine hohe Summe Geld an die Schweiz verkauft. Pavel Hoffmann war an Tuberkulose erkrankt. Der Schweizer Arzt, der ihn untersuchte, notierte in seinen Unterlagen: „Spricht seit drei Tagen kein Wort.“
Vor zwei Jahren erhielt er ein Foto, das ihn nach seiner Ankunft in der Schweiz zeigte. Eine junge Historikerin hatte es bei ihren Recherchen gefunden.
„Von 15.000 jüdischen Kindern haben nur 28 überlebt und kamen nach Prag zurück“, so Pavel Hoffmann weiter. Insgesamt starben 90% der jüdischen Kinder. Auch der Großteil der Familie Hoffmann überlebte nicht. Neben dem Redner überlebten ein Onkel und eine Tante, bei denen er nacheinander lebte. Seine Tante versuchte einen Teil seiner seelischen Wunden so gut es ging wieder zu schließen. Durchaus humorvoll erinnerte er sich daran, dass seine Tante ihm ihre Liebe vor allem mit viel Essen zeigte. In einem kleinen Städtchen im heutigen ungarisch-slowakischen Grenzgebiet versuchten sie wieder ein fast normales Leben zu führen. Erst Jahre später erfuhr er, dass er eigentlich Jude sei und gar nicht in den christlichen Religionsunterricht gehen müsste. Er schaute nach vorne und es begann das alltägliche Leben, von dem er am Anfang sprach. Er studierte, wurde Ingenieur, heiratete, bekam zwei Töchter und wurde schließlich in Reutlingen sesshaft.
Mit Sorge blickte der Zeitzeuge danach auf den stetig wachsenden Judenhass der Gegenwart und das negative Israelbild, das bei vielen vorherrsche. Juden seien in vielen Teilen Europas nicht mehr sicher. Er ermutigte die Anwesenden sich nicht durch die Medien, falsche Vorbilder und von vorgefertigten Meinungen beeinflussen zu lassen. Trotz der hochsommerlichen Temperaturen schloss sich eine rege Fragerunde an den Vortrag an und die Schüler verließen die sehr emotionale Veranstaltung sichtlich bewegt und sollen nun selbst als „Zeugen der Zeitzeugen“ aus dem Gehörten lernen.